Dr. Ulrike Steinbrenner

Mögliche Welten
Lilly Grote schafft mögliche Welten, Modelle en miniature, wie die Wirklichkeit beschaffen sein könnte – ihre Arbeiten beschreiben einen möglichen Stand der Dinge, ein reines Gedankenspiel. Mit Paul Valery: "Sehen heißt, den Namen des Gesehenen zu vergessen."

Und wie schafft Lilly Grote diese möglichen Welten? Bühnenbilder, Kuriositätenkabinette oder Traummaschinen, fremde Figurenwelten oder auch die Beschwörung von Fetischen - sie alle eröffnen neue, ungeahnte Verweisungszusammenhänge. Die verwendeten Techniken der Assemblage und der dreidimensionalen Objektmontage werden dabei nicht allein virtuos gehandhabt, sie werden auf eine sehr persönliche und eigenwillige Art interpretiert, vielfältige Bezüge zwischen Kunst, Kultur und Imagination auf höchst lyrische Weise in ein beziehungs- und kenntnisreiches Bild gesetzt. Der erzählerischen Verknüpfung von Realität und Fiktion entspricht die ästhetische: Fotografie, Skulptur und Malerei werden zu gleichrangigen Darstellungsmethoden.

Lilly Grote scheint der „verlässlich gedeuteten Welt“, der Sphäre des Materiellen, Realen oder gar Objektiven zu misstrauen: Mal ist unsere Existenz durch Jäger, Spione oder andere Schachtelteufel bedroht, die das ihnen zustehende Unwesen treiben. Dann wieder weisen vertraute wie unbekannte Gegenstände brüchige, berstende Materialitäten auf oder stehen im Begriff, auf geheimnisvolle Weise ihren Aggregatszustand zu wechseln, gerade noch aber werden wir Zeuge des vielleicht letzten Augenblicks vor der wundersamen Verwandlung.

 

Staub, ein Film über den Abbau und die Zerlegung eines Grenzhäuschens der DDR,
und auch Nautik mit seinen geheimnisvollen, ins Unterseeische, Nicht-Sichtbare abgesunkenen Gerätschaften verweisen auf die jüngste Zäsur der bundesrepublikanischen Geschichte. Und wie der 11. September 2001 wurde 1989 der Fall der Mauer von Tausenden Videokameras festgehalten.
Indem sie den Abbau eines Wärterhäuschens bis zur Beseitigung des konkreten, sinnlichen Restmaterials, des Staubes zeigt, wird zugleich ein symbolischer Gehalt von Geschichte überhaupt sinnlich fassbar - formuliert als leises Echo Herders: „Vorübergehend ist also alles in der Geschichte; die Aufschrift ihres Tempels heißt: Nichtigkeit und Verwesung. Wir treten den Staub unsrer Vorfahren und wandeln auf dem eingesunknen Schutt zerstörter Menschenverfassungen und Königreiche.“

Dr.Ulrike Steinbrenner, Berlin, April 10